Schlechte Faustregeln beim Notgroschen: Eine extrem teure Waschmaschine

Von 
Björn Beier
 · Hochgeladen am 
May 25, 2023
 · Letztes Update am 

Da denkt man nichts Böses und zack, die Waschmaschine ist kaputt!! Woher soll man nun das Geld nehmen? Gut, wenn man eine Notfallrücklage besitzt!

So oder so ähnlich wird fast jeder Artikel (Beispiel 1, 2, 3..) zum Thema Notgroschen (eine Notfallrücklage in liquiden Mitteln, z.B. Bargeld oder Sichteinlagen auf dem Girokonto) eingeleitet. Dicht gefolgt von einer weit verbreiteten Faustregel, die besagt, dass man 3-6 Nettomonatsgehälter auf dem Girokonto parken soll. Manche empfehlen statt der Monatsgehälter eher Monatsausgaben, also das was man tatsächlich jeden Monat ausgibt.

Cool, aber welche gottverdammte Waschmaschine kostet bitte 6 Monatsgehälter?

Laut Statista beträgt das durchschnittliche Nettomonatsgehalt in Deutschland ca. 2285€. Wer sich an die Faustregel hält und den Maximalbetrag von 6 Netto Monatsgehältern auf der hohen Kante hat, kann auf einen Liquiditätspuffer von 13.710€ zurückgreifen. Wenn Not am Mann ist, tut es auch das günstigste Produkt, solange es seinen Job tut. Die günstigste Waschmaschine kostet bei Mediamarkt aktuell 229€. Das ist schon eine riesige Differenz. Wenn doch nur die Waschmaschine im Notfall ersetzt werden soll, wozu ist der Notgroschen dann im Durchschnittsfall so hoch bemessen, dass ich damit 59 Waschmaschinen kaufen kann? Entgeht uns hier wertvolle Rendite, weil wir den Notgroschen nicht in Wertpapiere wie Aktien und ETFs investiert, sondern risikofrei auf dem Girokonto herumlungern lassen haben? (Keine Sorge, auf die Waschmaschine und woran man seinen Liquiditätspuffer bemessen sollte kommen wir später nochmal zurück..)

Um dem auf den Grund zu gehen, werfen wir einmal einen Blick in die USA. Wahrscheinlich ist diese Faustregel, wie einige Best Practices im Bereich der persönlichen Finanzen, einfach direkt aus dem amerikanischen Raum übernommen worden: Vanguard, Wells Fargo oder Chase - alle sprechen auf ihren Internetseiten von 3-6 Monatsausgaben, die man bei Seite legen sollte. Es gibt jedoch einen Unterschied, den noch nicht alle in den deutschen Raum übertragen haben. Auf den Seiten in diesen Beispielen wird nicht die kaputte Waschmaschine in den Fokus gerückt, sondern Krankheit oder gar Jobverlust. Dieser Unterschied ist extrem relevant, weil die Sozialsysteme in den USA und Deutschland anders funktionieren. Wer in Deutschland krank wird, hat üblicherweise keine hohen Rechnungen zu befürchten. Wer seinen Job verliert, hat üblicherweise Anspruch auf Arbeitslosengeld I - anders ist es in den USA, wo je nach Bundesstaat die Anspruchskriterien, die Höhe und die Dauer variieren und es etwas wie Bürgergeld (ehem. Hartz IV) nicht gibt. Meiner Meinung nach sind das aber schon Sachen, die man einkalkulieren sollte. Schließlich sind diese Sozialabgaben, auf die man im Notfall Anspruch hat, ein nicht unwesentlicher Teil unserer monatlichen Lohnabrechnung. 

Die Faustregel aus den USA stumpf übernehmen? Klingt auf den ersten Blick wenig sinnvoll. Und selbst dann, wer hat sich das mit den 3-6 Monatsgehältern oder Monatsausgaben überhaupt ausgedacht und wieso sollte das eine gute Richtlinie sein?

Volle Investition voraus: Geld kann man sich kurzfristig woanders besorgen.

Für das Beispiel muss dann doch nochmal die Waschmaschine herhalten. Sagen wir, du hast 1.000€ als deinen persönlichen Notgroschen definiert und überlegst, diese risikofrei zwischen 0% - 2% Rendite pro Jahr auf einem Giro- oder Tagesgeldkonto anzulegen. Oder doch lieber investieren? Stellen wir uns vor, du besitzt schon ein Aktiendepot im Wert von 2.000€.

Um kurzfristig an Geld zu kommen musst du das Geld gar nicht risikofrei anlegen. Du kannst z.B. auch einen Dispo- und Rahmenkredit deiner Bank nutzen oder eine Kreditkarte. Ich weiß, in der deutschen Finanzszene wird nichts so innig gehasst wie die vergleichsweise teuren Zinsen eines Dispokredits. Aber wir wollen nicht vergessen: Hier geht es um jemanden, der nicht in der “Dispofalle” steckt und von Monat zu Monat lebt, sondern jemand, der schon andere Rücklagen (hier in Form von Investitionen in Aktien & ETFs) hat. Wie viele Jahre wartest du auf das Versagen deiner Waschmaschine, damit sich der Dispokredit im Vergleich zum Liegenlassen der 1.000€ zu 0% - 2% statt langfristigen 7% nicht lohnt? Du begleichst den offenen Kredit selbstverständlich schnellstmöglich.

Wenn dir diese Variante zu “teuer” ist, gibt es ja noch eine andere: Verkaufe einfach bestehende Assets. Ja genau, ETFs, Aktien.. zu weißt schon, das was langfristig gedacht war, verkaufst du nun kurzfristig wegen eines Notfalls. Die meisten Neobroker haben kaum Ordergebühren. Also warum nicht machen? Auch das scheint eher ein No-Go zu sein. Schade um die Rendite bei gut laufenden Investitionen und Kursverluste möchte man bei schlecht laufenden Investitionen auf gar keinen Fall realisieren!

Ein logischer Fehler. Es ist völlig egal, wo du die 1.000€ entnimmst. Ob das Geld von deinem Girokonto fließt oder aus deinem Depot, das spielt keine Rolle. Du musst nur sichergehen, dass du eben genügend Geld in deinem Depot hast - auch dann, wenn der Wert schwankt. Und du musst annehmen, dass es egal ist - ob dein Aktienportfolio aktuell 20% im Minus oder Plus ist.

Vor was hast du Angst, entgangener Rendite, wenn du zu einem “schlechten” Zeitpunkt Geld entnimmst und mal kurzfristig nicht voll investiert bist? Du füllst diese Investitionen in den nächsten Monaten einfach wieder auf. Und wenn du davon ausgehst, dass deine Investition hochschießt, sobald du Geld entnommen hast, weil grad der Zeitpunkt so ungünstig (oder günstig) ist, habe ich eine schlechte Nachricht für dich: In diesem Fall würdest du gar kein Geld aus deinem Aktiendepot entnehmen. Du hättest aber auch kein Geld auf dem Girokonto angelegt. Rein ökonomisch würdest du auch hier eher die erste Möglichkeit - einen Kredit - nutzen, wenn die kurzfristige Chance an der Börse höher ist als die Kosten des Kredits.

Und noch eine Möglichkeit gibt es. Die Waschmaschine einfach da zu finanzieren, wo du sie kaufst. Als die Zinsen noch irgendwo bei 0% oder im negativen Bereich standen, ging das sogar tatsächlich kostenfrei und war wohl die beste Option. Jetzt kostet das natürlich ein paar Prozent. Aber wie oft wird deine Waschmaschine wohl versagen?

Die letzte Möglichkeit - bevor wir uns von der Waschmaschine verabschieden: Wasch deine Kleidung doch einfach temporär in einem Waschsalon oder bei Mutti, falls das eine Option ist.

Finanztheorie ist das eine, Menschen das andere.

Warum also nicht dauerhaft voll investiert sein, statt einen Notgroschen auf dem Tagesgeldkonto liegen zu lassen? So entgeht einem nicht die mögliche langfristige Rendite von Investitionen und die Auswahl an Alternativen ist riesig. Die Faustregel von 3-6 Monatsgehältern oder Monatsausgaben umfasst eine riesige Spanne und die Herkunft dieser Regelung ist unklar. Wissenschaftliche Begründungen gibt es ebenfalls nicht dafür. Im Gegenteil. Diese Studie, die US-Haushalte mit niedrigem und mittlerem Einkommen untersucht haben, kommt zum Entschluss, dass ein Notgroschen, eher in der Region eines Monatsgehalts (gemessen am Durchschnittshaushalts des Datensatzes) liegen sollte.


Bisher haben wir aber die Rechnung ohne den Menschen gemacht. Menschen sind nicht zu 100% rational oder finanztheoretisch denkende und völlig korrekt handelnde Akteure. Zu diesem Ergebnis kam auch eine Studie von Choi & Robinson in 2019, wo die Autoren herausfanden, dass es Menschen - zur Verwunderung der Autoren, die eher finanztheoretisch dachten - wichtig ist, einen Liquiditätspuffer zu besitzen. Wie gut können diese nicht rationalen Wesen überhaupt mit Geld umgehen? Werden Kredite verantwortungsvoll benutzt und Risiken korrekt eingeschätzt? Wer sagt überhaupt, dass schon Kapital in anderer Form vorliegt oder wie hoch die allgemeinen Sparquoten sind?

Der Notgroschen ist eine Versicherung. Eine Versicherung gegen die eigene Dummheit, dass du an der Börse dein sauer verdientes Geld mit 100er Hebel auf den DAX verzockst und dann im Notfall nichts mehr übrig ist. Und so eine Versicherung kostet eben Geld. Oder wie in diesem Beispiel: Rendite. Deswegen hier einmal der Fall, dass du tatsächlich einen von Investitionen getrennten Notgroschen anlegen willst.

Den Notgroschen bestimmen - wie mache ich es nun?

Erst einmal hören wir damit auf, nur an die Waschmaschine zu denken. Du arbeitest mit einem 10 Jahre alten Laptop, der beim Einschalten raucht? Dein Auto ist 100 Jahre alt und hat schon 1.000.000 Kilometer drauf? Die Heizung in deinem Einfamilienhaus ist uralt und sifft aus allen Rohren? Für die meisten Totalausfälle gibt es bereits vorher deutliche Anzeichen. Und klar, je älter dein Auto ist, desto mehr Rücklagen solltest du für Reparaturen bilden. Das kannst du alles in die Kategorie “Notgroschen” packen, aber besser wäre es, wenn du schon vorher für die verschiedenen Gegenstände planst und vielleicht auch schon vor dem totalen Zusammenbruch mal ein Gerät austauschst oder aufrüstest, damit es keine Notfallrücklage braucht die “alles” abdecken soll, wenn alles auf einmal zu Bruch geht. Monatseinnahmen oder Monatsausgaben eignen sich meiner Meinung nach schon deshalb nicht als Vergleichswert, weil sie keinen Aufschluss über die Verbrauchsgüter geben, die für einen Liquiditätsengpass sorgen. Du kannst z.B. extrem hohe Ausgaben für Lebensmittel und Restaurants haben, weil das dein großes Hobby ist. Diese hohen Ausgaben führen aber nie zu teureren Notfällen, sie machen die kaputte Waschmaschine oder das kaputte Auto nicht teurer. Genau wie die teure Miete in der Innenstadt die Ausgaben für die Instandhaltung deines Daches nicht erhöht, weil du gar kein Haus besitzt. Und sowieso, ist das kaputte Auto nicht völlig egal, wenn es nur dein Spaß- und Sommerauto ist und du auch mit der Bahn zu deinem Job kommst oder gar im Homeoffice arbeiten kannst? Hier brauchst du also nichts für zurückzulegen.

Die Faustregeln sind im Zweifel eine Ausrede dafür, sich nicht mit der eigenen Situation beschäftigen zu müssen. Und das halte ich für einen großen Fehler, denn nur du weißt, wie potenziell hoch deine Notfallausgaben sein könnten.

Hier zwei Beispiele für dich:

Du verdienst ein deutsches Durchschnittsgehalt, bist Single, hast keine Kinder, kein Auto, eine große Sparquote, völllig neue Haushaltsgeräte/Technik und zahlst eine geringe Pauschalmiete? Glückwunsch! Der von mir für dich berechnete Notgroschen beträgt exakt 0€.

Du bist alleinerziehender Familienvater von 3 Kindern mit frisch variabel finanziertem Eigentumshaus mit Loch im Dach, dringend für den Job benötigtem altem Auto und bist in einer Firma angestellt, wo dein Chef schon letzte Woche meinte, dass er nicht wisse wie lange er den Laden noch vor der Insolvenz halten kann? Dein Notgroschen beträgt: Unendlich.

Hier die Fragen, die du dir stellen musst:

  • Auf einer Skala von Beamter auf Lebenszeit zu Freelancer im kurz vor der Pleite stehenden Startup, wie sicher ist dein Job? Und wie schnell findest du im Zweifel einen neuen?
  • Für wie viele Menschen bist du finanziell verantwortlich (Partner, Kinder, Eltern..)?
  • Können im Zweifel andere für dich aufkommen (Partner, Kinder, Eltern, Staat..)?
  • Wie viele deiner Ausgaben kannst du in einem Notfall sofort reduzieren?
  • Wie hoch ist deine Sparleistung, die du im Notfall anzapfen könntest?
  • Wie viel Vermögen besitzt du? Wie schnell kannst du es zu Geld machen? Und willst du das?

Finanztheoretische Überlegungen wie Kredite oder der Verkauf von Wertpapieren ist in der Theorie zwar interessant und ggf. lukrativ, aber bist du dafür der Typ? Um im Notfall und danach ohne getrenntes Notfallkonto richtig zu handeln benötigt es Disziplin, hast du die? Falls ja, go for it. Es ist keine Schande, nicht den Großteil seines Vermögens auf einem Tagesgeldkonto anzulegen, egal wie viele dir das erzählen. Hier geht es um dein persönliches Risikoempfinden. Und auch schon zur ultimativen Frage, die deinen Notgroschen definieren sollte:

Mit wie viel sofort verfügbarem und risikolos angelegtem Geld fühlst du dich wohl? Alle Überlegungen sind völlig wertlos, wenn du nachts nicht schlafen kannst.

Ich persönlich kann mit 2.500€ Liquiditätsreserve extrem gut schlafen. Dabei ist es mir völlig egal ob das 0 oder 100 Monatsgehälter oder Ausgaben sind. Falls du trotzdem lesen willst wie ich lese, kannst du das in meinen anderen Artikeln nachlesen.

Beim Notgroschen ist es meiner Meinung nach wie mit der gesamten Vermögensallokation. Sie lässt sich initial vielleicht anhand von Alter und Risiko abschätzen, ist dann aber eine Sache des Bauchgefühls:

So sagte einmal Jack Bogle, der leider schon verstorbene Gründer von Vanguard: "Ich bin 88 Jahre alt und bin zu 50% in Anleihen und 50% in Aktien investiert. 50% der Zeit mache ich mir sorgen, mein Aktienanteil sei zu hoch. Die anderen 50% der Zeit mache ich mir sorgen, mein Aktienanteil wäre zu niedrig. Ich habe das Gefühl, dass sich so die meisten Investoren fühlen."

Teile den Artikel mit deinen Freunden
Speichern
Artikel Sharen

Einer meiner 15.731 Leser würde bestimmt sagen, dass das hier der beste deutsche Finanzblog ist.
Gefragt habe ich jedoch niemanden.

Danke dir. Schau in dein Email Postfach.
Oops. Da lief was schief. Probiere nochmal, wenn der Fehler anhält, schicke mir einen Screenshot davon. Danke dir